Im Sommer 2022 findet in Venedig wieder die Kunst-Biennale statt. Noch heute ist mir eine „Entdeckung“ präsent, die ich 2012 in der Ausstellung machte: die „Hidden Mother“–Bilder des 19. Jahrhunderts. Merkwürdige Fotos von Babys, zu Hunderten in langen Vitrinen arrangiert, die oft erst auf den zweiten Blick den zweiten Protagonisten offenbaren – die „verborgene Mutter“. Manche haben sich in geblümten Chintz gewickelt und geben vor, Lehnstühle zu sein. Andere verstecken sich hinter dem Sofa, so dass man nur ihre Hände sieht, die das Kind wie eine Puppe halten. Andere drehen sich einfach aus dem Bild oder verstecken sich unter einem weißen Laken, in der Hoffnung nicht wahrgenommen zu werden.
“In Amerika war es gängige Praxis für die Mutter oder andere Bezugspersonen, das Kind während der Fotoaufnahmen und der langen Belichtungszeit zu halten. Jede Bewegung hätte das Foto verwackelt“, erklärt Linda Fregni Nagler, eine italienisch-schwedische Fotografin, die über 1000 dieser frühen Mutter und Baby-Fotos zusammengetragen hat. “Von der Mutter wurde erwartet gleichzeitig da und doch unsichtbar zu sein.“ Die Resultate sind oft gruselig, wie einen Geist nimmt man die Gestalt im Hintergrund wahr.
Doch warum dieser ganze Aufwand? Warum lassen sich die Mütter nicht einfach gemeinsam mit ihren Kindern fotografieren? Nagler glaubt, dass die Fotografie als damals neue Kunstform, ihre eigenen Regeln entwickelte. Die Babybilder wurden gemacht, um Familie und Freunden die jüngsten Familienmitglieder vorzustellen. Es sollte ein enges Band zwischen Kind und Betrachter entstehen, welches nicht durch die Darstellung des innigen Verhältnisses zwischen Mutter und Kind gestört werden sollte, so die Fotografin.